Petrarca

by admin | 10. Juli 2012 05:57

Landschafts-Philosophie

Francesco Petrarca

Die Besteigung des Mont Ventoux (1336) [Auszüge]

Familiarum rerum libri IV 1

“Ad Dyonisium de Burgo Sancti Sepulcri “An Francesco Dionigi von Borgo San Seplcro
(1) Altissimum regionis huius montem, quem non immerito Ventosum vocant, hodierno die, sola videndi insignem loci altitudinem cupiditate ductus, ascendi. Multis iter hoc annis in animo fuerat; ab infantia enim his in locis, ut nosti, fato res hominum versante, versatus sum; mons autem hic late undique conspectus, fere semper in oculis est. (1) Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht zu Unrecht Ventosus, »den Windigen«, nennt, habe ich am heutigen Tag bestiegen, allein vom Drang beseelt, diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen. Viele Jahre lang hatte mir diese Besteigung im Sinn gelegen; seit meiner Kindheit habe ich mich nämlich, wie Du weißt, in der hiesigen Gegend aufgehalten, wie eben das Schicksal mit dem Leben der Menschen sein wechselvolles Spiel treibt. Dieser Berg aber, der von allen Seiten weithin sichtbar ist, steht mir fast immer vor Augen.
(17) Primum omnium spiritu quodam aeris insolito et spectaculo liberiore permotus, stupenti similis steti. Respicio: nubes erant sub pedibus; iamque michi minus incredibiles facti sunt Athos et Olimpus, dum quod de illis audieram et legeram, in minoris fame monte conspicio. (18) Dirigo dehinc oculorum radios ad partes italicas, quo magis inclinat animus; Alpes ipse rigentes ac nivose, per quas ferus ille quondam hostis romani nominis transivit, aceto, si fame credimus, saxa perrumpens, iuxta michi vise sunt, cum tamen magno distent intervallo. Suspiravi, fateor, ad italicum aerem animo potius quam oculis apparentem, atque inextimabilis me ardor invasit et amicum et patriam revidendi […]. (17) Zuerst stand ich, durch den ungewohnten Hauch der Luft und die ganz freie Rundsicht bewegt, einem Betäubten gleich da. Ich schaue zurück nach unten: Wolken lagen zu meinen Füßen, und schon wurden mir der Athos und der Olymp weniger sagenhaft, wenn ich schon das, was ich über sie gehört und gelesen, auf einem Berg von geringerem Ruf zu sehen bekomme. (18) Ich wende dann meine Blicke in Richtung Italien, wohin mein Herz sich stärker hingezogen fühlt. Die Alpen selber, eisstarrend und schneebedeckt – über die einst jener wilde Feind des römischen Volkes stieg, der, wenn wir der Überlieferung glauben dürfen, mit Essig sich durch die Felsen einen Weg brach –, sie zeigten sich mir ganz nah, obwohl sie weit entfernt sind. Ich seufzte, ich gestehe es, nach italischer Luft, die mehr dem Geist als den Augen sich darbot, und ein unwiderstehliches, brennendes Verlangen erfaßte mich, sowohl Freund als Vaterland wiederzusehen […].
(24) […] donec, ut omissis curis, quibus alter locus esset oportunior, respicerem et viderem que visurus adveneram – […] (24) […] Ich ließ meine Sorgen fahren, für die ein anderer Ort passender sein mochte, wandte mich um und blickte zurück gegen Westen – […].
(25) Limes ille Galliarum et Hispanie, Pireneus vertex, inde non cernitur, nullius quem sciam obicis interventu, sed sola fragilitate mortalis visus; Lugdunensis autem provincie montes ad dexteram, ad levam vero Massilie fretum et quod Aquas Mortuas verberat, aliquot dierum spatio distantia, preclarissime videbantur; Rodanus ipse sub oculis nostris erat. (26) Que dum mirarer singula et nunc terrenum aliquid saperem, nunc exemplo corporis animum ad altiora subveherem, visum est michi ConfessionumAugustini librum […] inspicere […]. (27) Forte autem decimus illius operis liber oblatus est[:] »Et eunt homines admirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et occeani ambitum et giros siderum, et relinquunt se ipsos«.[…].” (25) Der Grenzwall der gallischen Lande und Spaniens, der Kamm der Pyrenäen, ist von dort nicht zu sehen, nicht weil, soviel ich weiß, irgendein Hindernis dazwischenträte, nein, allein infolge der Schwäche der menschlichen Sehkraft. Die Berge der Provinz von Lyon hingegen zur Rechten, zur Linken sogar der Golf von Marseille und der, der an Aigues-Mortes brandet, waren ganz deutlich zu sehen, obwohl dies alles einige Tagereisen entfernt ist. Die Rhone lag geradezu unter meinen Augen. (26) Während ich dies eins ums andre bestaunte und bald an Irdischem Geschmack fand, bald nach dem Beispiel des Körpers die Seele sich zu Höherem erhob, kam ich auf den Gedanken, in das Buch der Bekenntnisse des Augustinus hineinzuschauen […]. (27) Zufällig aber bot sich mir das zehnte Buch dieses Werkes dar […] [:] Und es gehen die Menschen hin, zu bewundern die Höhen der Berge und die gewaltigen Fluten des Meeres und das Fließen der breitesten Ströme und des Ozeans Umlauf und die Kreisbahnen der Gestirne – und verlassen dabei sich selbst.[…].”

Quelle Text

PETRARCA, Francesco [1304 – 1374]: Die Besteigung des Mont Ventoux. Lateinisch/ Deutsch. Übersetzt und hg. von Kurt STEINMANN, Stuttgart 1995, S. 4-25.

 

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