Landschafts-Philosophie
Friedrich Hölderlin
Der Neckar
“In deinen Tälern wachte mein Herz mir auf
zum Leben, deine Wellen umspielten mich,
und all der holden Hügel, die dich
Wanderer! Kennen, ist keiner fremd mir.
Auf ihren Gipfeln löste des Himmels Luft
Mir oft der Knechtschaft Schmerzen; und aus dem Tal,
wie Leben aus dem Freudebecher,
glänzte die bläuliche Silberwelle.
Noch dünkt die Welt mir schön, und das Aug entflieht,
verlangend nach den Reizen der Erde mir,
zum goldenen Paktol, zu Smyrnas
Ufer, zu Ilions Wald; auch möcht ich
Bei Sunium oft landen, den stummen Pfad
Nach deinen Säulen fragen, Olympion!
Noch eh der Sturmwind und das Alter
Hin in den Schutt der Athenertempel
Und ihrer Gottesbilder auch dich begräbt,
denn lang schon einsam stehst du, o Stolz der Welt,
die nicht mehr ist. Und o ihr schönen
Inseln Ioniens! Wo die Meerluft
die heißen Ufer kühlt und den Lorbeerwald
durchsäuselt, wenn die Sonne den Weinstock wärmt;
ach! Wo ein goldner Herbst dem armen
Volk in Gesänge die Seufzer wandelt,
wenn sein Granatbaum reift, wenn aus grüner Nacht
die Pomeranze blinkt, und der Mastixbaum
vom Harze träuft, und Pauk und Zimbel
zum labyrinthischen Tanze klingen.
Zu euch, ihr Inseln! Bringt mich vielleicht, zu euch,
mein Schutzgott einst; doch weicht mir aus treuem Sinn
auch da mein Neckar nicht mit seinen
lieblichen Wiesen und Uferweiden.”
Quelle Text
HÖLDERLIN, Friedrich [1770 – 1843]: „Der Neckar“ [Gedichte 1800-1806], hier zitiert nach: BERNHARD, Marianne (Hg.): Deutschland im Spiegel der Dichtung, München 1967, S. 179f.
Anmerkungen (D. Mirbach)
Paktol: Paktolos: Antiker Name eines Flußes nahe der ägäischen Küste der heutigen Türkei.
Ilios: Antiker Name von Troja.
Sunium: Lat. Name für Kap Sounion an der südlichsten Spitze Attikas.
Mastixbaum: Mastixbaum oder –strauch, wiss. Name Pistacia lentiscus, gehört zur Familie der Sumachgewächse (Anacardiaceae), immergrüner, im Mittelmeerraum wachsendes, bis zu 8 Meter hohes Gehölz mit gefiederten Blättern und Beerenfrüchten, wird öfter in der Bibel erwähnt.